Höchstwahrscheinlich hätte es niemand auf dieser Welt für möglich gehalten, dass sich wegen der anhaltenden Corona-Pandemie unser Wohnraum in kürzester Zeit in einen komplexen Austragungsort privater, öffentlicher und beruflicher Nutzungen verwandeln würde. Doch haben diese völlig unerwarteten und plötzlichen Ansprüche an unser Wohnverhalten auch zur Folge, dass mittel- und langfristig ganz neue Wohnformen entstehen werden? Wir haben diese Überlegung auf jeden Fall zum Anlass genommen, einen Blick in die Geschichte des Wohnens zu werfen.
Sicher ist, dass die Auswirkungen von Covid-19 auf unsere Gesellschaft unzählige von Soziologen, Psychologen und Ökonomen noch viele Jahre lang beschäftigen werden. Auf den ersten Blick hat der derzeitige Ausnahmezustand jedoch noch nicht unser allgemeines Wohnverhalten auf den Kopf gestellt, das sich allerdings auch in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert hat. So besteht ein herkömmliches Wohnhaus gestern wie heute immer noch aus Mauern, Türen, Fenstern und einem Dach. Räume werden in Wohn- Schlaf-, Kinder- und Arbeitszimmer sowie Küche und Bäder unterteilt. Einige Häuser beherbergen dazu noch einen Dachboden, einen Keller, eine Garage und manchmal auch einen Garten beziehungsweise einen Balkon. Auf den zweiten Blick wird jedoch klar, dass klassische Wohnformen einem stetigen Wandel unterliegen, der von den unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wird. Dazu gehören technische, soziale und politische Entwicklungen, aber auch der vorherrschende Zeitgeist einer bestimmten Epoche.
Zunächst spielte die Musik hauptsächlich auf dem Land. Hier wohnten die meisten Menschen in einfachen Bauernhäusern, während es sich die gut betuchte Gesellschaft in feudalen Herrenhäusern bequem machte. Abgeschlossene Wohneinheiten, wie wir sie heute kennen, oder ein Einfamilienhaus in einer reinen Wohnsiedlung gab es zu diesen Zeiten noch nicht. Vielmehr wohnten, schliefen und kochten mehrere Generationen in einem einzigen Raum. Kinder schliefen auf Lumpen und Schichtarbeiter krochen tagsüber in ein angemietetes Bett.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot die Industrie immer mehr Leuten Arbeit. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass es die Menschen in Scharen in die Städte zog. Durch die regelrechten Menschenanstürme stieg die Bevölkerung in diesen Gebieten explosionsartig an. Besonders markant war die Entwicklung des Ruhrgebiets, in dem sich Kleinstädte in wenigen Jahren zu einer riesigen Stadtregion, einer sogenannten ‚Konurbation‘, entwickelten. Und es dauerte seine Zeit, bis die Städte Lösungen für den plötzlichen Menschenansturm fanden. Es nach und nach bauten sie etwa Versorgungssysteme für Wasser, Gas und Elektrizität, noch später entstanden auch Krankenhäuser, Parks und Straßenbahnen.
Annähernd moderner Wohnkomfort kam jedoch eigentlich erst im Zuge der zahlreichen Wohnungsbauprogramme nach dem Zweiten Weltkrieg auf, als schnell erbaute und architektonisch nüchtern gehaltene Mehrfamilienhäuser die akute Wohnungsnot in den zum Teil stark zerstörten Städten lindern sollten. Diese Bauten waren zwar schlicht gehalten und räumlich betrachtet recht beengt, aber verfügten immerhin über zweckmäßige Grundrisse, Elektro- und Wasseranschlüsse sowie individuelle Badezimmer und Toiletten.
Noch in den 60er und 70er Jahren versuchte man, nun durch das sogenannte ‚Baukastensystem‘, Kosten zu senken und Bauzeiten zu verkürzen. In der DDR entstanden aus dieser spezifischen Bauweise, bei der die Einzelteile des Wohngebäudes bereits vorgefertigt auf die Baustelle geliefert wurden, die berühmt-berüchtigten ‚Plattenbauten‘. Außerdem setzte in den 70er-Jahren die ‚Stadtflucht‘, die sogenannte Suburbanisierung ein: Viele Menschen zogen nun aus den als ungemütlich empfundenen Städten in Einfamilien- oder Reihenhaussiedlungen am Stadtrand oder auf das beschauliche Land, wo sie sich mehr Lebensqualität erhofften. Ein weiterer Grund für die einsetzende Suburbanisierung war zudem, dass die Mieten und vor allem die Preise für Grundstücke im Umland wesentlich günstiger als in zentralen Ballungszentren waren. Außerdem wurde durch den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel die Erreichbarkeit peripherer Gebiete erheblich erleichtert.
Ein weiterer Blick in die Geschichte des Wohnens zeigt auf, dass sich die Gesellschaft in den 80er-Jahren dem allzu nüchternen Funktionalismus langsam, aber sicher abwandte. Sogar die architektonische Formensprache wurde nun endlich wieder üppiger und Monotonie sollte auch bei den verwendeten Materialien vermieden werden. Gebaut wurde in dieser Zeitepoche mit Stein, Metall, Holz und Glasflächen in den Hausfassaden.
Im darauffolgenden Jahrzehnt fing die Baubranche dann richtig an zu boomen. Auf einmal wurde großzügig und hell gebaut, Wintergärten erfreuten sich großer Beliebtheit, Landhaus- und Toskanastil wurden schick. Aber auch energieeffizientes Bauen spielte eine immer wichtigere Rolle, was wiederum zu enormen Sanierungsbedarf bei den sogenannten Plattenbauten im Osten des nun wiedervereinten Deutschlands führte.
Anfang der Jahrtausendwende bekam der Bauboom der 90er-Jahre jedoch einen Dämpfer. Ursachen dafür waren unter anderem die Anschläge vom 11. September 2001, der relativ hohe Leitzins und die damit verbundenen teuren Immobilienkredite. Gebaut wurde in dieser Zeit relativ wenig, dafür wurde die Stadt als Lebens- und Wohnraum wiederentdeckt. Die Geschichte des Wohnens wurde in dieser Zeit aber auch von damals innovativen Wohnformen geprägt, wie dem altersgerechten Wohnen und der räumlichen Mobilität von Angestellten florierender Unternehmen. Eine besonders hohe Nachfrage gab und gibt es bis heute noch nach kleineren Wohneinheiten, um die Senioren, Studenten, Alleinerziehende und Singles oft erbittert konkurrieren.
Besonders in einigen Großstädten gibt es jedoch nicht nur eine extrem hohe Nachfrage nach sogenannten Micro-Appartments, sondern es fehlt auch generell immer mehr an bezahlbarem Wohnraum. Städteplaner müssen heutzutage aber nicht nur mehr Platz zum Wohnen, sondern auch qualitativ hochwertigen Wohnraum schaffen. Schließlich ist eine reine Wohnsiedlung ohne Einkaufsmöglichkeiten, Freizeitaktivitäten oder ohne jeglichen Dialog zwischen ihren Bewohnern in der Regel und auf Dauer für eigentlich niemanden befriedigend. Anderseits müssen aber auch die autofreundlichen Innenstädte der 50er- und 60er-Jahre zeitgemäß und attraktiv gestaltet werden, ohne den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zu vernachlässigen. Im Prinzip sollen Wohnen, Arbeiten, Gewerbe- und Grünflächen eine ausgewogene Mischung ergeben, in der sich eine breit gefächerte Bevölkerungsstruktur wohlfühlen kann und harmonisch miteinander lebt.
Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch viele Orte in Deutschland, in denen keine Wohnungsknappheit herrscht, sondern die vielmehr unter stetig schrumpfenden Einwohnerzahlen leiden. Dabei handelt es sich meist um kleinere oder mittlere Städte im ländlichen Raum, die nur über eine schwache Infrastruktur verfügen. Neben leerstehenden Wohnungen schließen dort auch immer mehr Einzelhändler, die keine Nachfolger oder Nachmieter für ihr Geschäft finden, weil die Konkurrenz durch Lebensmitteldiscounter, große Einkaufszentren oder das Internet schlichtweg zu stark ist. Die Folge sind leere Schaufenster und eine immer weiter sinkende Attraktivität dieser Standorte.
Könnte nun etwa die anhaltende Corona-Pandemie Anlass sein, diesen Regionen wieder mehr Leben einzuhauchen? Könnten unsere neuen Lebensumstände dazu beitragen, verlassene Orte wieder attraktiver zu gestalten? Fakt ist zumindest, dass zwangsläufig neue Wohnkonzepte entstehen werden, die sich unseren veränderten Lebensumständen anpassen. Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung und immer mehr Möglichkeiten im Homeoffice werden viele Menschen zwar geografisch flexibler werden. Vor allem Wohnen an sich wird jedoch wieder einen höheren Stellenwert bekommen, weil wir einfach mehr Zeit zu Hause verbringen. Dementsprechend machen wir uns unsere eigenen vier Wände noch gemütlicher, überlegen neue Raumaufteilungen mit genügend Platz für Arbeitszimmer und Rückzugsorte oder ziehen einen Umzug auf eine größere Wohnfläche mit eigenem Außenbereich in Betracht. Welche neuen Wohnformen als Folge der Corona-Pandemie irgendwann in der Geschichte des Wohnens zu lesen sein werden, wird sich jedoch erst im Laufe der Zeit zeigen.
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